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Gedankenspiel

Wir alle leben gerade in einem Wechselbad:

Wir sehen den Wahnsinn dieser Welt und versuchen zu verstehen, was völlig ausser Kontrolle geratene Politiker anzetteln, wie sie jegliche Menschlichkeit hinter sich und ihrem Hass freien Lauf lassen.
Wir sehen die Bilder aus dem Mittelmeer, Menschen auf wackeligen Booten, ihrem Schicksal überlassen, durch genau jene Politiker, die in einer Allianz des Hasses sich europaweit vereinen.
Wir sehen die Bilder und lesen die Nachrichten, wie neue Nazis sich auf unseren Strassen und in unserer Gesellschaft immer breiter machen, wir sehen die Ergebnisse des Hasses, der durch die wahnsinnige, sich immer schneller um sich selbst drehende Politik noch mehr angeheizt wird.
Wir lesen die zynischen Kommentare unter traurigen Nachrichten vom Tod und Elend vieler Menschen und sind erschrocken darüber.
Wir sehen das und wir verstehen es nicht.

Und gleichzeitig möchten wir uns einfach die Decke über den Kopf ziehen,
der Welt den Rücken drehen,
zurück in unsere Muschel,
einfach Ruhe und Frieden haben:

„Ich weiß nicht, was mich dazu bringt,
Und welche Kraft mich einfach zwingt,
Was ich nicht sehen will, zu seh‘n.
Was geh‘n mich fremde Sorgen an,
Und warum nehm‘ ich teil daran,
Statt einfach dran vorbeizugeh‘n.
Ich schließ‘ die Fenster, schließ‘ die Tür‘n,
Damit die Bilder mich nicht rühr‘n,
Doch sie geh‘n mir nicht aus dem Sinn.
Mit jedem Riegel mehr vorm Tor
Dringt es nur lauter an mein Ohr,
Und unwillkürlich hör‘ ich hin…“

Denn das Mass dessen, was wir aufnehmen können ist voll, ja sogar übervoll.

So sehr wir uns auch bemühen, weg gucken geht nicht mehr. Der Wahnsinn wird  kein Ende nehmen.
Die heile Welt, in der wir zu leben glaubten ist zerstört, geschändet durch den Hass, der nun wieder über unser Leben hereinbricht , wie schon er einmal –  vor 85 Jahren – über das Leben unserer Eltern und Grosseltern hereingebrochen ist.

Aber im Gegensatz zu damals wissen wir, wohin der Weg führen wird, wenn man dem nichts entgegen setzen.
Wenn WIR dem nichts entgegensetzen:

„Mich zu verteid‘gen brauch‘ ich nicht.
Keine Geschworn‘nen, kein Gericht
Nehmen mir meine Zweifel ab,
Ob ich dem, der um Hilfe bat,
Was ich ihm geben konnte, gab,
Was ich für ihn tun konnte, tat.
Hab‘ ich das je zuvor gefragt,
Hab‘ ich mir denn nicht selbst gesagt;
Irgendwer kümmert sich schon drum.
Irgendwer wird zuständig sein,
Da misch dich besser gar nicht rein,
Und ausgerechnet du, warum?“

Dabei ist klar, dass keiner von uns alleine etwas erreichen kann, weil man die Stimme eines einzelnen nicht hört, weil sie untergeht im hasserfüllten Gepöbel der populistischen Massen und im Heile-Welt-Gebrabbel derjenigen, die sich entschlossen haben zu resignieren oder weg zu gucken.

Nur, wenn viele von uns den Mund aufmachen werden wir gehört werden und vielleicht auch etwas ändern können:

„Hab‘ ich mir denn nicht selbst erzählt,
Daß meine Hilfe gar nicht zählt,
Und was kann ich denn schon allein?
Was kann ich ändern an dem Los,
Ist meine Hilfe denn nicht bloß
Ein Tropfen auf den heißen Stein?
Und doch kann, was ich tu‘ vielleicht,
Wenn meine Kraft allein nicht reicht,
In einem Strom ein Tropfen sein,
So stark, daß er Berge versetzt,
Sagt denn ein Sprichwort nicht zuletzt,
Höhlt steter Tropfen auch den Stein.“

Selbst, wenn wir die Spirale des Hasses im Augenblick nicht stoppen können, so besteht vielleicht die Chance, sie zu bremsen und ihr die Kraft zu nehmen, um irgendwann eine Umkehr zu erreichen.
Das ist es wert, dass wir auf die Strasse gehen und uns  wehren gegen den Wahnsinn, der sich gerade Politik nennt, der gerade – angeblich –  in unser aller Namen stattfindet.
Denn ich bin sicher, keiner von uns  wird seine Ruhe wieder finden, wenn wir nicht etwas dagegen tun – jeder so viel, wie er vermag.

Alle Zitate in diesem Text:
(c) Reinhard Mey 1974 aus: Aber Deine Ruhe findest Du nicht mehr

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