Mein Opa Karl hätte es einfach gehabt, den Begriff „Heimat“ für sich zu definieren – für ihn war es der Ort, den er in der Mitte seines Lebens verlassen musste und nie wieder gesehen hat:
Ein kleines Dorf in Hinterpommern – Nove Laski (oder „Neu Laatzig“, wie es früher in deutscher Zeit hiess und wie er es immer nannte). Ein Sehnsuchtsort für ihn und – durch seine immer wiederkehrenden Erzählungen – lange Zeit auch für mich, weil ich das Gefühl hatte, wenigstes einmal die Atmosphäre dort spüren und die imaginäre Erinnerung in meinem Kopf in eine reale verwandeln zu müssen.
Also sind wir – die Liebste und ich – vor zwei Jahren dort gewesen, als wir aus Danzig zurück kamen.
Und ich kann heute sagen, dass ich jetzt die Sehnsucht meines Grossvaters ein Stück weit verstehen kann, denn es ist wirklich schön dort :
Sanfte Hügel, weite Felder, dichte Wälder, ein kleiner See, das Dorf, das Haus, welches fast noch genauso aussieht wie zu Grossvaters Zeiten.
Und doch war es ganz anders als in seinen Beschreibungen, denn von den Menschen aus den alten Erzählungen lebt natürlich schon seit langem keiner mehr dort.
Wie auch?
Schon, als Opa noch lebte waren alle anderen ja auch „vertrieben“ worden und in alle Winde zerstreut.
Weshalb ich auch ein wenig bezweifele, ob mein Opa Karl wirklich glücklich gewesen wäre, wenn er dorthin hätte zurückkehren können… so ganz ohne die Menschen, die Teil seines Heimatbegriffes waren.
Ein Zweifel übrigens, der mich auch umtreibt, wenn ich an die Orte meines eigenen Lebens denke – Orte, die sich viel mehr verändert haben als das verschlafene kleine Dorf in Pommern, wie ich bei meinen gelegentlichen leicht nostalgisch angehauchten Vergangenheits-Ausflügen per Satellitenansicht in Google Maps immer wieder feststelle.
Das Dorf meiner Kindheit in der Bielefelder Senne beispielsweise:
Kaum wiederzuerkennen!
Wo früher Felder und Weiden waren stehen jetzt gesichtslose Reihenhäuser und Fabriken, durch die „Heide“ wurde eine Autobahn gebaut, Wälder und markante Gebäude sind verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. Nur das Haus meiner ersten Jahre, das gibt es noch: Und sogar die beiden Sauerkirschbäume stehen noch im Garten, die ich als kleiner Junge mit meinem Vater zusammen dort gepflanzt habe (wobei ich mit meinem Sandschäufelchen sicher keine grosse Hilfe war ).
Veränderungen also beinahe allenthalben – wie ich auch „live und in Farbe“ erleben konnte, als ich in einer kurzen Episode zwischen meiner Lübecker Zeit und dem Umzug hierher nach Hamburg vor mehr als vierzehn Jahren nochmal ein paar Wochen in „meinem Dorf“ gelebt habe.
Und vor allem: Von den Menschen meiner Kindheit habe ich dort niemanden mehr gefunden. Gestorben, weg gezogen, im Strudel der Zeit verschwunden allesamt!
Womit dieses Dorf nicht mehr „mein Dorf ist“, wie ich es kenne…. sondern eher ein Ort, der mehr nichts mehr sagt.
Ähnliches gilt auch für die „Anstalt“, in der ich fünfundzwanzig Jahre meines Lebens gewohnt und gearbeitet habe – eine Zeit, die mich nachhaltig geprägt hat und an die ich mich in grossen Teilen gerne zurück erinnere, auch wenn nicht alles schön war, was ich dort erlebt habe.
Logisch, dass es seither auch da viele Veränderungen gab.
Sicherlich in vielen Dingen zum positiven – aber dennoch: auch dies ein Ort, den ich kaum noch erkenne und der mir fremd geworden ist.
Wozu womöglich auch noch kommt, dass alle Freundschaften aus jener Zeit den Bach runter gegangen sind – teils, weil Kontakte während der schlimmsten Phase meiner Depression einfach abrissen, teils aber auch, weil während der Trennung von meiner ersten Frau wohl öfter mal die Loyalitätsfrage im Raum stand und nicht zu meinen Gunsten beantwortet wurde – woran ich – zugegeben – auch meine Anteile hatte.
Bleibt also noch Kassel als Ort meiner Kindheit, mit dem ich irgendwie tief verwurzelt bin, den ich aber seit dem Tod meiner Grossmutter und meiner Tante Ruth (die mit dem Kaffee) auch nie mehr besucht habe, obwohl ich mehrfach durchgereist bin. Schlicht weil es keinen Grund gab, da nochmal hin zu fahren, auch wenn es in meiner Erinnerung ein warmer, ein besonderer Ort ist, an dem ich mich immer sehr geborgen und sicher gefühlt habe.
Aber ist das Heimat?
Und natürlich Hamburg, mein Lebensmittelpunkt und Zuhause seit vierzehn Jahren. Der Ort, wo ich mit meiner Liebsten und unseren Fellnasen zusammen lebe und an dem ich mich sehr wohl fühle – als „Beutehanseat“ und „Quiddje“ wohl gemerkt, aber inzwischen heimisch geworden und eigene Wurzeln gebildet habend, auch wenn mir manches „urhamburgische“ immer noch etwas fremd erscheint und ich selbst nach dieser langen Zeit noch einen Stadtplan brauche, wenn ich an unbekannten Stellen in der Stadt unterwegs bin.
Heimatgefühle habe ich – wenn überhaupt – hier.
Als Zugereister, der unter all den anderen Zugereisten kaum noch auffällt.
Ganz anders als mein Grossvater, für den „Zuhause“ und „Heimat“ immer sein Dorf in Pommern geblieben ist und der sich überall sonst auf der Welt als Fremder gefühlt hat.
Wobei ich aber auch nicht verhehlen möchte, dass ich durchaus nostalgisch-freudige Gefühle des Wiedererkennens hatte, als ich während der Münsteraner Zeit meiner Liebsten auf einer meiner Landpartien auch mal durch Ostwestfalen (und damit sehr nahe an Bielefeld vorbei) gefahren bin. Das Münsterland, die Senne, die Höhen des Teutoburger Waldes – alles gut bekannt und „nach alten Zeiten riechend“.
Aber hingezogen hat mich nach Bielefeld dennoch nichts – auch nicht zur „Anstalt“ und oder gar ins Dorf meiner Kindheit.
Was hätte ich da auch finden können?
Heimat also ein Ort?
Die Frage kann ich für mich wohl klar mit „Nein “ beantworten – oder vielleicht besser mit „Heimat ist ein Ort in meiner Erinnerung“
Ähnlich, wie es das kleine Dorf in Pommern wohl schlussendlich auch für meinen Grossvater gewesen sein mag:Orte unterliegen nun mal einem einem ständigen Wandel und selbst Landschaften verändern sich im Lauf der Zeit.
Will sagen, die kann niemand von uns genau so wiederfinden, wie er sie verlassen und in seiner Erinnerung bewahrt hat – auch, weil er dort ganz sicher nicht mehr die gleichen Menschen treffen wird wie früher. (Aber dazu im nächsten Beitrag – Heimat – die Menschen? – mehr)
Oder anders ausgedrückt:
Die Wiese in meinem Dorf, auf der ich vor mehr als fünfzig Jahren als zehnjähriger Junge neben meinem Freund in der Sonne gelegen und die Schmetterlinge beobachtet habe, die gibt es nicht mehr!
An ihrer Stelle steht da jetzt ein hässliches Reihenhaus, ich bin inzwischen ein alter Mann geworden und mein Freund ist schon lange tot, gestorben, weil er von einem Auto angefahren wurde…..
Und die Schmetterlinge?
Wer weiss!
Was davon blieb, ist also nur die Erinnerung an diesen einen kurzen Moment, an die Sonne, das trockene, riechende Gras, die tanzenden Schmetterlinge und das wunderbar warme Gefühl von „es könnte ewig so sein!“dabei.
Wenn solche Erinnerungen „Heimatgefühle“ sind, ja dann muss der Ort meiner Heimat wohl in meinem Kopf liegen als Mischung aus ganz vielen Orten und vielen verschiedenen Eindrücken in den unterschiedlichsten Phasen meines Lebens.
Ein schöner Ort, wie ich zugeben muss…. so nah und doch so fern.
In diesem Sinne:
Bliebt gesund und bleibt behütet.
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