.

Unbehagen

Eigentlich ist die Überschrift zu diesem Beitrag noch viel zu schwach, gemessen an den sehr persönlichen , deswegen aber nicht weniger dramatischen Ereignissen rumd um das letzte Wochenende in Chemnitz, die hier in einem Gastbeitrag  auf dem Blog Gedankensplitter beschrieben werden.
Ereignisse, wie sie mitten in Deutschland im Jahr 2018 beinahe zum Alltäglichen gehören mit ihrer Ausgrenzung, ihrem  Rassismus und  ihrem falsch verstandenem Patriotismus.
Angeheizt sicherlich auch durch die vorgeblichen Biedermänner der Partei, die sich selbst als „Alternative“ bezeichnet, durch Politiker der anderen Parteien, die sich als auf dem rechten Auge blind erweisen oder gar versuchen, diese „Alternative“ möglichst weit rechts zu überholen, wie beispielsweise unser Heimatminister.

Aber darüber schrieb ich schon  – und das soll jetzt hier auch nicht zum Thema werden.

Was mich viel mehr bewegt ist dieser kleine Junge, der nun möglicherweise ein Trauma erlebt hat, dass seinen Glauben an das Gute im Menschen nachhaltig zerstört.
Da ich selbst ja auch Kinder habe, kann ich mir gut vorstellen, wie dramatisch diese Erlebnisse für ihn sind – und auch, wie sehr seine Welt ins Wanken geraten ist, weil er nun – zumindest vorübergehend nicht mehr in seiner gewohnten Umgebung sein kann und niemand weiss, wie lange.
Gut verstehen kann ich auch die Sorge und Hilflosigkeit seines Onkels, denn Ängste um ein Kind – da gibt es kaum Schlimmeres. Zumal wenn man diesem Kind auch nicht wirklich erklären kann, was da gerade passiert ist und vielleicht noch passieren kann…
Verständlich zudem, dass er es vorzieht in der Sicherheit der Anonymität zu bleiben, um nicht noch einem Shitstorm  (oder Schlimmeren) ausgesetzt zu werden.
Und deshalb gebührt ihm auch aller Respekt, dass er trotzdem so offen über die Geschehnisse und seine Gedanken dazu schreibt.

Sehr bewegt hat mich auch eine Äusserung, die meine Liebste vorgestern machte, nachdem sie vom Einkaufen zurück kam. Dabei ist sie  im Treppenhaus auch unseren afrikanischen Nachbarn und deren Kindern begegnet, was Anlass zu der Überlegung gab:

„Was wäre wenn sowas auch hier auf unserer Insel, in unserer direkten Nachbarschaft passieren würde ?“

Ja, was wäre dann?

Wir leben hier in unserem  Stadtteil mit Menschen aus vielen Nationen und Himmelrichtungen zusammen, meist sehr harmonisch und mit viel Respekt im Umgang miteinander.
Und es ist völlig normal, Menschen in unterschiedlichsten Hautfarben zu begegnen, unterschiedliche Sprachen zu hören, und immer wieder die verschiedensten kulturellen Eigenschaften zu erleben.
Ob nun türkische Hochzeit, fromme verschleierte Muslima beim Besuch der Moschee, portugiesischer Kaffee, vietnamesisches Essen, bunt gekleidete Afrikanerinnen mit ihren Kindern, unser arabischer Kioskbesitzer, der russische Paketbote oder polnische Laute bei unserem Hausarzt:
All das ist völlig normaler Teil der Gesellschaft, in der wir hier leben – und darüber regt sich niemand auf.
Und keiner behauptet von sich, er „sei das Volk“, selbst wenn es bekanntermassen auch auf unserer Insel ein paar rechte Spinner gibt, die mehr oder weniger einsam durch die Gegend laufen und sich nicht trauen, hier die Klappe aufzumachen.

Im Gegenteil war vor drei Jahren, auf dem Höhepunkt der „Flüchtlingswelle“, die Hilfsbereitschaft auf der Insel riesig gross – und das hat sich bis heute erhalten.

Alltag in Deutschland auch das, selbst wenn wir hier auf unserer Multikulti-Insel vielleicht auch ein wenig auf der Insel der Glückseligen sind.
Ich gebe zu, ich bin deswegen dankbar, weil es bei uns ist, wie es ist.
Friedlich und ohne Angst leben zu können mitten in dieser bunten Mischung von Menschen.

Und deshalb verstehe ich  die Schreihälse in Chemnitz immer weniger. Engstirnig auf -angeblich – „deutschen“ Werten zu beharren und sich damit selbst der vielen Möglichkeiten zu berauben, die eine multikulturelle Gesellschaft bietet.
Was soll das? Wofür soll das gut sein?

Umso mehr hoffe ich für den kleinen Jungen, dass auch er einen Ort finden kann, an dem  für ihn ein Leben ohne Angst möglich ist – so wie bei uns.


Auch dafür sind wir gestern auf die Strasse gegangen, um nicht  den Braunen das Feld zu überlassen.
Denn es ist auch unsere Freiheit, die sie  nicht nur in Chemnitz  angreifen.
Und es war ein wirklich gutes Gefühl – und auch gut gegen das Unbehagen, dass mich in den letzten Tagen buchstäblich nicht hat schlafen lassen – so friedlich und mit über 16.000 anderen Menschen zusammen durch Hamburg zu laufen mit dem Wissen:

#wirsindmehr!

Mehr zu Demo gibt es bei meiner Liebsten zu lesen.
Und reichlich Bilder dazu in unserem virtuellen Photoalbum.

One Reply to “Unbehagen”

  1. Ohne diese Inseln, wäre alles noch viel unerträglicher. Ich denke in letzter Zeit allerdings auch viel darüber nach, wie fragil diese Inseln sind. Wie leicht es umschlagen kann. Auch wir leben auf so einer Insel.

Comments are closed.

..